Evidenzbasierte internationale Leitlinien empfehlen, den Verzehr von rotem und verarbeitetem Fleisch einzuschränken, um das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, Krebs und vorzeitigen Tod zu verringern. Dieser etablierte Ansatz ist jetzt vom Free Nutritional Recommendations (NutriRECS)-Konsortium in Frage gestellt worden (1). Das privat finanzierte Gremium legt Erwachsenen ab 18 Jahren nahe, den Fleischverzehr bis auf Weiteres wie gewohnt beizubehalten. Die wissenschaftlichen Analysen enthalten, so NutriRECS, lediglich schwache und unsichere Belege für den Schutz vor chronischen Erkrankungen infolge einer fleischreduzierten Kost. Die unkonventionellen, von NutriRECS im Journal Annals of Internal Medicine publizierten Ernährungsempfehlungen haben die Fachwelt wie die Öffentlichkeit gleichermaßen herausgefordert, sich zum Konsum von rotem und verarbeitetem Fleisch sowie zur Reichweite von Ernährungsempfehlungen zu positionieren.
Wissenschaftliche Details
Das Journal Annals of Internal Medicine hat kürzlich neuartige Empfehlungen abgedruckt, in denen die gängigen internationalen Richtlinien zur Reduktion des Fleischkonsums pauschal in Frage gestellt werden (1). Federführend unterzeichnete das Free Nutritional Recommendations (NutriRECS)-Konsortium, das sich seit längerem für Modifikationen im Design von Ernährungsstudien einsetzt. 14 Experten aus Kanada, Spanien, Polen, Neuseeland und Norwegen sind Teil des Gremiums (2). Das Gremium empfiehlt Erwachsenen ab 18 Jahren, den Verzehr von unverarbeitetem rotem und verarbeitetem Fleisch bis auf weiteres wie gewohnt fortzusetzen. Zwei Argumentationsstränge stützen diese Position im Wesentlichen:
- Die Analyse von 12 randomisierten Untersuchungen und 70 umfangreichen Beobachtungsstudien hat nach Aussage der Autoren trotz hoher wissenschaftlicher Standards nur schwache Belege für einen Schutz vor Herz-, Gefäß- und Tumorerkrankungen infolge einer fleischreduzierten Kost erbracht.
- Zudem sei die hohe Affinität zum Fleischverzehr in der Natur des Menschen als Allesfresser und in kulturellen Lebensgewohnheiten gleichermaßen zu tief verankert und durch restriktive Vorgaben ohnehin schwer zu beeinflussen.
Die unkonventionellen Schlussfolgerungen von NutriRECS haben die öffentlichen Diskussionen um den gesundheitlichen Nutzen einer Reduktion des Fleischverzehrs erneut entfacht. Wissenschaftler von der Harvard University stellen klar, dass die Empfehlungen von NutriRECS schlicht als gesundheitsschädigend anzusehen seien und auch deshalb nicht gerechtfertigt sein könnten, weil sie den eigenen Studienergebnissen widersprechen würden (3). Diese Ergebnisse bestätigten statistisch signifikant, dass ein höherer Verzehr von rotem Fleisch – insbesondere von verarbeitetem rotem Fleisch – mit einem höheren Risiko für Typ-2-Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bestimmten Krebsarten und dem vorzeitigen Tod verbunden ist (4,5,6). Die Diskrepanz zwischen den Studienergebnissen und den abgeleiteten Empfehlungen bestätigte unter anderem John Sievenpiper, einer der Autoren der NutriRECTS-eigenen Übersichtsarbeiten. Er widerspricht den Empfehlungen daher vehement (3). Auch der World Cancer Research Fund International positioniert sich in einer Stellungnahme, unterschrieben von zahlreichen bekannten Ernährungsexperten, klar gegen die Empfehlungen von Johnston et al. (7). Die Forschungsergebnisse von NutriRECS seien nicht bedeutend anders als die Erkenntnisse aus dem aktuellen Krebsforschungsbericht 2018, so die Experten der Krebsforschungsgesellschaft. Allerdings seien die Schlussfolgerungen widersprüchlich.
Statement der Assmann – Stiftung für Prävention
Die angeführten Empfehlungen bzw. die zugrundeliegenden Übersichtsarbeiten weisen sowohl methodische als auch inhaltliche Mängel auf, die ihre Aussagekraft deutlich einschränken. Darauf weist unter anderem die Masse an Stellungnahmen zahlreicher Ernährungswissenschaftler hin, die sich zeitnah nach deren Publikation kritisch äußerten. Unter anderem verfassten die Mitglieder der True Health Initiative, darunter zahlreiche namenhafte Fachexperten, einen Brief an die Chefredakteurin der Annals of Internal Medicine, Christine Laine, in dem vergebens um eine erneute inhaltliche Prüfung und Zurückstellung der Publizierung gebeten wurde (8).
Zu den gravierendsten Kritikpunkten an der Publikation von Johnston et al. zählen neben den genannten (s.o.) unter anderem:
- Schlüsselstudien zur gesundheitsförderlichen Wirkung einer fleischreduzierten Kost, wie etwa die PREDIMED-, DASH- und die Lifestyle-Herz-Studie sind in den NutriRECS-Gutachten nur partiell oder überhaupt nicht berücksichtigt worden.
- Auf Dringlichkeiten wie den sorgsamen Umgang mit Ressourcen sowie den Schutz von Umwelt und Klima, die zusätzlich eine Beschränkung des Fleischkonsums weltweit erfordern, wird zu wenig eingegangen (3,9,10).
- In die Übersichtsarbeiten wurden nur Studien einbezogen, die Fleischesser mit Fleischessern verglichen. Die untersuchten Personengruppen unterschieden sich also nur in der Menge des Fleischkonsums. Studien mit sich fleischfrei ernährenden Personengruppen wurden hingegen ausgeschlossen (10).
- Marion Nestle, weltweit bekannte Fachexpertin der Ernährungspolitik, äußert begründete Zweifel darüber, dass alle Autoren frei von Interessenskonflikten seien (11). Eventuelle Interessenskonflikte sind in einer evidenzbasierten Wissenschaft stets zu vermeiden, um die Neutralität und Unabhängigkeit wissenschaftlicher Arbeit zu bewahren.
„Die Empfehlungen des Gremiums, dass Erwachsene weiterhin ihre Gewohnheiten hinsichtlich des Konsums von rotem Fleisch beibehalten sollten, sind hochgradig verantwortungslos. Wir sind konfrontiert mit einer zunehmenden Epidemie ernährungsabhängiger chronischer Krankheiten und einer Klimakrise – beides auf einen hohen Fleischkonsum zurückzuführen.“ resümiert Frank Hu, Vorsitzender des Lehrstuhls für Ernährung der Harvard University (12). Auch wenn die Evidenz einer Fleischbeschränkung also möglicherweise weniger stark sein könnte als gedacht, sind Empfehlungen zu einer Ignoranz bestehender weltweiter Ernährungsempfehlungen als verantwortungslos und unethisch anzusehen. Ungeachtet der Tatsache, dass ein hoher Fleischkonsum nachgewiesenermaßen gesundheitliche Risiken birgt, muss das „bigger picture“ mitsamt sozial-ethischer, ökonomischer und ökologischer Auswirkungen betrachtet werden. Unter allen Gesichtspunkten ist ein unbegrenzter Fleischkonsum nach persönlichem Gusto weder gesund noch empfehlenswert.
Die Debatte um die NutriRECS-Empfehlungen reicht weit über das Für und Wider einzelner Ernährungskomponenten hinaus. Aus der Publikation dieses Statements ergeben sich weiterführende Fragen wie etwa die Frage nach einem wirksamen Schutz vor dem Missbrauch von Metaanalysen und vor Fehlinformationen sowie zur Sicherung der Glaubwürdigkeit der Ernährungswissenschaft. Die Vehemenz der geführten Auseinandersetzungen weist auf den aktuellen Bedarf nach gesicherten Präventionsempfehlungen hin.
Zum Weiterlesen
(1) B.C. Johnston et al. (2019): Unprocessed red meat and processed meat consumption: dietary guideline recommendations from the Nutritional Recommendarions (NutriRECS) Consortium. In: Annals of Internal Medicine. Online unter https://annals.org/aim/fullarticle/2752328/unprocessed-red-meat-processed-meat-consumption-dietary-guideline-recommendations-from
(2) B.C. Johnston et al. (2018): Methods for trustworthy nutritional recommendations NutriRECS (Nutritional Recommendations and accessible Evidence summaries Composed of Systematic reviews): a protocol. In: BMC Medical Research Methodology, Vol. 18, Nr. 162. Online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6280455/
(3) Harvard T.H. Chan School of Public Health (2019): New “guidelines” say continue red meat consumption habits, but recommendations contradict evidence. The Nutrition Source. Online unter https://www.hsph.harvard.edu/nutritionsource/2019/09/30/flawed-guidelines-red-processed-meat/
(4) R.W.M. Vernooij et al. (2019): Patterns of red and processed meat consumption and risk for cardiometabolic and cancer outcomes a systematic review and meta-analysis of cohort studies. In: Annals of Internal Medicine. Online unter https://annals.org/aim/fullarticle/2752327/patterns-red-processed-meat-consumption-risk-cardiometabolic-cancer-outcomes-systematic
(5) M.A. Han et al. (2019): Reduction of red and processed meat intake and cancer mortality and incidence: a systematic review and meta-analysis of cohort studies. In: Annals of Internal Medicine. Online unter https://annals.org/aim/fullarticle/2752321/reduction-red-processed-meat-intake-cancer-mortality-incidence-systematic-review
(6) D. Zeraatkar et al. (2019): Effect of lower versus higher red meat intake on cardiometabolic and cancer outcomes: a systematic review of randomized trials. In: Annals of Internal Medicine. Online unter https://annals.org/aim/fullarticle/2752326/effect-lower-versus-higher-red-meat-intake-cardiometabolic-cancer-outcomes
(7) World Cancer Research Fund International (2019): Red and processed meat still pose cancer risk, warn global health experts. Online unter https://www.wcrf.org/int/latest/news-updates/red-and-processed-meat-still-pose-cancer-risk-warn-global-health-experts
(8) True Health Initiative (2019): Embargoed for release until 5:00 p.m. ET on Monday September 30 2019 Annals of Internal Medicine Tip Sheet. Letter to the Editor in Chief Christine Laine, MD, MPH. Online unter https://www.truehealthinitiative.org/wp-content/uploads/2019/09/Annals-letter-9-30-19.pdf
(9) Antje Sieb (2019): Aktuelle Analyse zu rotem Fleisch als Gesundheitsrisiko: Kein Grund mehr, den Konsum einzuschränken? In: Medscape. Online unter https://deutsch.medscape.com/artikelansicht/4908279
(10) Marion Nestle (2019): Eat as much meat as you like? Really? Food Politics. Online unter https://www.foodpolitics.com/2019/09/eat-as-much-meat-as-you-like/
(11) Marion Nestle (2019): The International Life Sciences Institute (ILSI): true colors revealed. Food Politics. Online unter https://www.foodpolitics.com/2019/10/the-international-life-sciences-institute-ilsi-true-colors-revealed/
(12) True Health Initiative (2019): True Health Initiative Respectfully Disagrees. A Response to the Annals of Internal Medicine Review on Meat Guidelines. Online unter https://www.truehealthinitiative.org/news2019/true-health-initiative-respectfully-disagrees/