Eiweißablagerungen, Plaques, im Gehirn gelten bislang als dominierender Auslöser für die Alzheimer-Erkrankung. Da jedoch trotz milliardenschwerer Investitionen und jahrzehntelanger, intensiver Forschung in diese Richtung es bislang nicht gelungen ist, wirksame Medikamente gegen Alzheimer zu entwickeln, finden derzeit komplementäre Erklärungsmodelle Beachtung. Dabei erhält der Denkansatz, bei Alzheimer könnte es sich um eine Stoffwechselstörung handeln, stärkeres Gewicht und Beachtung (1). Studien stützen diese Hypothese (2).
Jetzt begründet ein dreiköpfiges Team von Neurowissenschaftlern um Lloyd Demetrius (Harvard Universität, Cambridge und Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, Berlin) im Journal Frontiers Physiology systematisiert und theoretisch die Vermutung, Alzheimer sei durch altersbedingte Probleme in der Energieversorgung der Hirnzellen verursacht (3).
Der Energiestoffwechsel verändert sich im Alter. Drei Effekte wirken sich in diesem Prozess nach Ansicht der Neurowissenschaftler insbesondere schädigend aus, eine Fehlregulation in den Mitochondrien, eine Neuordnung des Stoffwechsels, inverser Warburg-Effekt genannt, und die natürliche Selektion von Nervenzellen mit normalen und mit hochregulierter OXPHOS-Aktivität:
Mit zunehmendem Alter verringert sich in den Mitochondrien, den sogenannten Energiekraftwerken der Zellen, die Aktivität von Enzymen, Glucose in Energie zu verwandeln und diese zu verwenden, um Neuronen lebensfähig zu erhalten. Die Folge sei ein Energiedefizit im Gehirn, das der Organismus mit einer alternativen Energiegewinnung, der oxidativen Phosphorylierung, zu kompensieren versucht. Mit der kompensatorischen Steigerung der oxidativen Phosphorylierung verliert die Energiegewinnung im Faktor 1:19 an Effizienz. Zudem komme es zum Wettbewerb zwischen den noch gesunden Neuronen im Standard-Modus der Energieerzeugung und den eingeschränkten Neuronen mit gesteigerter OXPHOS-Aktivität. Allerdings begünstige der mit einer gesteigerten Aktivität einhergehende Selektionsvorteil die Stoffwechselstörung im Gehirn und fördere die Ausbreitung der Erkrankung.
Beobachtungen, das etwa bei Alzheimer vermehrt Zellen in Hirnregionen absterben, die für das Gedächtnis und das Lernen zuständig sind und dadurch einen besonders hohen Energiebedarf haben, stützen empirisch das bioenergetische Modell und damit die Hypothese von Alzheimer als eine Stoffwechselstörung im Gehirn.
Das fast unkonventionell anmutende bioenergetische Modell überträgt ein Erklärungsmuster zur Entstehung von Tumorzellen, Warburg-Effekt genannt, auf neuronale Prozesse. Sporadische Krebsarten und altersverwandte neurologische Erkrankungen, wie die Alzheimer-Krankheit, Morbus Parkinson und amyotropher Lateralsklerose (ALS) verhalten sich comorbid. Krebsüberlebende etwa haben ein geringeres Risiko, an Alzheimer zu leiden als Patienten mit Krebs. Otto Heinrich Warburg hatte schon im Jahre 1924 vermutet, dass Krebs auf einen Defekt im Stoffwechsel zurückgeführt werden kann, infolge dessen Glukose nicht mehr wie normal verbrannt, sondern unter Ausschluss von Sauerstoff zu Lactat vergärt wird. Diese Veränderung im Stoffwechsel wird heute bei Untersuchungen zur Entstehung und zum Wachstum von Tumorzellen zunehmend beschrieben und nun auch im Energiestoffwechsel von Nervenzellen gesucht.
Die Wissenschaftler schlagen vor, künftig auch die OXPHOS-Aktivität als einen Marker für ein erhöhtes Alzheimer- Risiko zu verwenden. Dieser Marker solle vorzugsweise zum Nachweis für die nicht genetisch bedingten, sporadischen Spätformen der Alzheimer-Erkrankungen eingesetzt werden, die rund 95 % aller Fälle ausmachen. Den Aussagewert des derzeit gebräuchlichen Amyloid-Markers beschränken die Neurowissenschaftler auf den Nachweis der genetisch bedingten Frühformen. Ein Grund für diese Abgrenzung liegt im nichtproportionalen Verhältnis zwischen der Menge von Amyloid-Plaques und dem Verlauf von Alzheimer. Epidemiologische Studien zeigen, dass ganz unabhängig von der Zahl der Plaques die Inzidenz von Alzheimer mit dem Alter exponentiell zunimmt. Schätzungsweise ein Drittel gesunder Personen weisen die spezifischen Proteinklumpen im Gehirn auf, ohne irgendwelche Anzeichen einer Demenz zu zeigen. Demnach handele es sich bei der sporadischen Form von Alzheimer nicht primär um eine genetische Krankheit, bei der Amyloid fehl verarbeitet wird, sondern um eine Störung des Energiestoffwechsels – so die Autoren.
Um Alzheimer künftig vorzubeugen oder wenigstens hinauszögern zu können, solle vorzugsweise nach Medikamenten gesucht werden, die die Energiezufuhr in die alternden Hirnzellen stärkt und den Stoffwechsel stabilisiert. Eine Idee dabei ist es, durch metabolische Eingriffe die Zusammensetzung der neuronalen Mikroumgebung zu verändern, etwa durch die Erhöhung der astrozytischen Laktatproduktion, oder durch die „vorsichtige“ Verwendung von Antioxidantien.
Mit dem bioenergetischen Modell zur Erklärung der Alzheimer-Demenz wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf Faktoren gelenkt, die den Energiestoffwechsel in den Mitochondrien beeinflussen oder gegebenenfalls beeinträchtigen. Neben Umwelteinflüssen, wie z.B. Vergiftungen und Infektionen spielt die Ernährung hier eine entscheidende Rolle. Cholesterin bildet die Schlüsselkomponente in diesem Prozess.
Neuste Schätzungen gehen davon aus, dass ein Drittel der Alzheimer-Erkrankungen weltweit auf potenziell veränderbare Risikofaktoren zurückzuführen sind und mit präventiven Aktionen gleichzeitig gegen krankhaftes Übergewicht, Diabetes mellitus, Bluthochdruck, Bewegungsmangel, Rauchen und Depressionen gezielt reduziert werden könnten (4). Die Liste der Risikofaktoren für Demenzen, von denen die Alzheimer-Erkrankung am häufigsten auftritt, ist dabei längst nicht abgeschlossen, doch scheint der Ansatz einer risikofaktorenkombinierenden Intervention erfolgsversprechend zu sein.
Mit einem multimodalen Konzept gegen bekannte Risikofaktoren für Demenzen, wie etwa Diabetes mellitus und Bluthochdruck, ist es jetzt gelungen, die kognitive Leistungsfähigkeit von Demenzrisikopatienten zu verbessern. Dies berichtet jetzt das Fachjournal The Lancet unter Bezug auf Ergebnisse der finnischen Geriatrie-Studie FINGER (Finnish Geriatric Intervention Study to Prevent Cognitive Impairment and Disability) (5).
Die FINGER-Studie stellt eine der umfangsreichsten Untersuchungen zu Demenzen dar. In die hier betrachtete doppelblinde, randomisiert-kontrollierte Studie sind 1.260 Frauen und Männer zwischen 60 und 77 Jahren aus 6 finnischen Zentren eingeschlossen. Alle Probanden weisen ein erhöhtes Demenzrisiko auf, das mit Hilfe des CAIDE-Scores (Cardiovascular Risk Factors, Aging and Dementia Risk Score) bestimmt worden ist. Der CAIDE-Score berücksichtigt Bluthochdruck, Hypercholesterinämie, erhöhtes Homocystein, krankhaftes Übergewicht, Diabetes mellitus, exzessiven Konsum von Alkohol und von gesättigten Fetten, Rauchen sowie Atemwegserkrankungen als demenzrisikosteigernd; Hochschulbildung, sportliche Aktivität, den Konsum von Kaffee und ungesättigten Fettsäuren sowie die Statin-Therapie als demenzrisikomindernd (6).
Das Ziel der Studie war es zu prüfen, ob multimodal, d.h. durch eine Kombination von gesunder Ernährung, von Bewegungs- und Kognitionstraining sowie durch die Kontrolle vaskulärer Risikoparameter, der Verfall der kognitiven Leistungsfähigkeit bei Älteren aufgehalten werden kann. Als primärer Endpunkt ist die Änderung der allgemeinen kognitiven Leistungsfähigkeit mit einer neuropsychologischen Testbatterie (NTB) gemessen worden.
Die Probanden wurden eingangs darüber informiert, wie eine Lebensstiländerung dazu beitragen kann, Erkrankungsrisiken zu verringern. Im Studienverlauf sind Stoffwechselrisikoparameter bei allen kontrolliert worden, in der Interventionsgruppe allerdings häufiger als in der Vergleichsgruppe. Die Interventionsgruppe absolvierte zusätzlich innerhalb von 24 Monaten ein spezifisches Präventionsprogramm. Dies enthielt neben dem Kognitions- und Muskeltraining sowie Aerobic-Übungen ein Ernährungsmodul, das Obst, Gemüse und Vollkornprodukte, fettarme Milch- und Fleischprodukte, zwei Portionen Fisch pro Woche sowie wenig Zucker (< 50g/Tag) favorisiert. Außerdem sollte statt Butter Pflanzenmargarine oder Rapsöl verwenden werden. Vom Studienprogramm profitierten beide Gruppen, doch konnte in der Interventionsgruppe (n=631) die kognitive Leistungsfähigkeit um ein Viertel mehr gesteigert werden (Z-Score: +0,20 in der Interventionsgruppe vs +0,16 in der Kontrollgruppe). Maßgeblich verbesserten sich die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung (um 150 %) sowie die Fähigkeit, strategisch zu handeln, Impulse zu kontrollieren und die Aufmerksamkeit zu steuern (um 83%).
Das Forscherteam um Dr. Tiia Ngandu vom National Institute for Health and Welfare in Helsinki und dem Karolinska Institute in Stockholm sehen mit dem doppelten Erfolg der Studie ein Konzept bestätigt, das Risiko für ein Neurodegeneration im Alter im Paket, mit einer multifaktoriellen Lebensstiländerung und motiviert durch ein häufiges Feedback zu den individuellen kardiovaskulären Risikoparametern, zu verringern.
Eine Brücke zwischen den genetischen und metabolischen Ursachen für die Alzheimer-Erkrankung schlägt jetzt die epigenetische Forschung (7). Die amerikanische Epigenome Roadmap, abgedruckt im Nature-Journal, schildert, dass in den Nervenzellen von Mäusen, die an einer Art Alzheimer Erkrankung leiden, solche Gene epigenetisch aktivierbar geschaltet sind, die auf Angriffe des Immunsystems reagieren. Gleichzeitig bleiben andere Gene epigenetisch inaktiv, die die Zellen benötigen, um zu lernen, also um neue Verbindungen zu anderen Nervenzellen herzustellen.
Zum Weiterlesen:
- Assmann-Stiftung für Prävention. Alzheimer und Altern. Forschungskolloquium Gesünder älter werden. Düsseldorf. 24.01.2014. Sonderbeilage zur Rheinischen Post. Abrufbar über den Link https://www.assmann-stiftung.de/wp-content/uploads/2014/01/EXTRA-Ges%C3%BCnder-%C3%A4lter-werden-Seite-12.pdf
- Exemplarisch: Assmann-Stiftung für Prävention. Bereits leicht erhöhte Blutzuckerwerte steigern das Demenzrisiko. Abrufbar über https://www.assmann-stiftung.de/leicht-erhohte-blutzuckerwerte-steigern-demenzrisiko/
- L.A. Demetrius et al. Alzheimer’s disease: the amyloid hypothesis and the Inverse Warburg effect. Front. Physiol., 14 January 2015 DOI: 10.3389/fphys.2014.00522
- S. Norton et al. Potential for primary prevention of Alzheimer’s disease: an analysis of population-based data. The Lancet Volume 13, No. 8, p788–794, August 2014. DOI: http://dx.doi.org/10.1016/S1474-4422 (14)70136-X
- Cardiovascular Risk Factors, Aging and Dementia Risk Score. Abrufbar über http://www2.uef.fi/fi/caide/modifiable-factors-in-caide-study
- T. Ngandu et al. A 2 year multidomain intervention of diet, exercise, cognitive training, and vascular risk monitoring versus control to prevent cognitive decline in at-risk elderly people (FINGER): a randomised controlled trial. The Lancet. Published online March 11 2015. DOI: http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736(15)60461-5
- Roadmap Epigenomics Consortium: Integrative analysis of 111 reference human epigenomes. Nature 518, 317–330 Doi:10.1038/nature14248 S. 317-330 und (19 February 2015) Doi: 10.1038/518314a
E. Gjoneska et al.: Conserved epigenomic signals in mice and humans reveal immune basis of Alzheimer’sdisease. Nature 518, 19.02.2015, S. 365-369. Doi: 10.1038/nature14252 http://www.roadmapepigenomics.org/