Um abschätzen zu können, wie wahrscheinlich es ist, (künftig) an einer vererbbaren Erkrankung zu leiden, wird unter anderem das Erbgut eines Menschen auf Fehler abgesucht. Diese Analyse der genetisch begründeten Vorbelastung führt gegebenenfalls nicht immer nur zur Identifizierung eines einzigen Gendefekts; oft genug werden zwei oder auch mehr krankheitsfördernde Genveränderungen gefunden. Unterschiedliche Gendefekte können sich zudem in sehr ähnlichen Krankheitsbildern äußern und sich überlappen. Dies ist beispielsweise bei Hauterkrankungen augenscheinlich der Fall. So kommt es bei der Xeroderma pigmentosum wie beim Rothmund-Thomson Syndrom zu Veränderungen auf der Haut, in den Augen und oft auch zu Krebserkrankungen, ohne das die zugrunde liegende genetische Struktur bei den Erbgutträgern gleich fehlerbehaftet ist. Wissenschaftler aus Houston schlagen jetzt im New England Journal of Medicine eine Entscheidungshilfe vor. Mit dem datenbankgestützten Analysetool soll die Zuordnung von Symptomen zu Erkrankungen bei Mehrfachgendefekten erleichtert werden.
Wissenschaftliche Details
Anders als meist angenommen, können auch zwei oder mehr Gendefekte an einer Erkrankung beteiligt sein und sich in einem vielschichtigen Krankheitsbild äußern. Konstellation, die gar nicht so selten auftritt: Etwa jeder zwanzigste Patient, der an einer Erbkrankheit leidet, hat mehr als einen Gendefekt, schätzten Wissenschaftler vom Baylor College of Medicine in Houston (1). Dieser Einschätzung zugrunde lagen die Ergebnisreihen von ganzen Exom-Sequenzierungen bei 7.374 Patienten im Zeitraum von Oktober 2011 bis April 2016. Das Exom als Schlüssel zur Codierung von Proteinen macht zwar nur ein Prozent des menschlichen Erbguts aus, beherbergt jedoch so gut wie alle Abschnitte, die, wenn fehlerhaft, Erkrankungen verursachen.
Mehr als jeder vierte der Studienteilnehmer trug einen fehlerhaften Genabschnitt. Bei 101 Patienten waren sogar zwei oder mehr Genabschnitte defekt. Um das Zusammenspiel zwischen den multiplen fehlerbehafteten Erbgutmustern und den damit einhergehenden komplexen Krankheitsbildern überhaupt darstellen zu können, beschränkten sich die Wissenschaftler auf Listen, die die möglichen Folgen von lediglich zwei Gendefekten abbildeten (1). Deren Interpretation legen Schlussfolgerungen nahe, die aus der Sicht der Studienautoren die gängige ärztliche Praxis revolutionieren könnten: Nicht immer sei die Bewertung eines Krankheitsbildes mit der Identifikation einer anfänglichen molekularen Diagnose abgeschlossen.
Erbgut-Analysen können abweichend von der Mendelschen Vererbungslehre mehr als eine Krankheit offenbaren, die für einen Patienten und dessen Familie relevant sind. Daher solle bei der Diagnose von vererbbaren Erkrankungen die Vermutung mit einbezogen werden, dass sich Gendefekte überlappen und neuartige Zustände auslösen können. Um der Herausforderung, Krankheiten mit mehreren genetischen Ursachen zu diagnostizieren, gerecht werden zu können, schlagen die Houstoner Wissenschaftler ein datenbankgestütztes Analyse-Tool vor, das die Zuordnung von genetischen Defekten und ihren vielfältigen Erscheinungsbildern erleichtert soll (2).
Zum Weiterlesen
(1) J. Posey et al. (2017): Resolution of Disease Phenotypes Resulting from Multilocus Genomic Variation. In: The New England Journal of Medicine, Vol. 376, S. 21-31. Online unter http://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa1516767 sowie Anlagen unter http://www.nejm.org/doi/suppl/10.1056/NEJMoa1516767/suppl_file/nejmoa1516767_appendix.pdf
(2) Vgl. das Portal unter http://human-phenotype-ontology.github.io/2016/09/03/release_sept.html