Digitale Gesundheitskompetenz wird definiert als die Fähigkeit, elektronisch verfügbare Informationen sowie IT-gestützte Technik zum Erhalt der eigenen Gesundheit einzusetzen. Mit Blick auf den digitalen Wandel sind Experten sich einig, dass diese Kompetenz frühzeitig trainiert werden sollte. Doch bislang fehlen validierte Lehrprogramme ebenso wie ein allgemeingültiges Konzept für den Schulkontext.
Einen Einblick in den aktuellen Stand der Dinge bietet die jetzt im Bundesgesundheitsblatt veröffentlichte Publikation „Digitale Gesundheitskompetenz – Konzeptionelle Verortung, Erfassung und Förderung mit Fokus auf Kinder und Jugendliche“ (1). Das von der Universität Bielefeld koordinierte Autorenteam von Sozialwissenschaftlern hinterfragt Modelle zur Beschreibung von digitalen Gesundheitskompetenzen. Ziel der Autoren ist es, auf Ansätze zur Überwindung des Präventionsdilemmas im Sozialraum Schule zu verweisen.
Wissenschaftliche Details
Prävention mithilfe digitaler Tools eröffnet neue Gestaltungsmöglichkeiten für mehr Lebensjahre in Gesundheit. Digitale Gesundheitskompetenz ist die Voraussetzung dafür, um die digitalen Optionen zu erkennen, auszuwählen und in Anspruch zu nehmen. Über das Ausmaß digitaler Gesundheitskompetenz bei Schülerinnen und Schülern ist bislang wenig bekannt, unter anderem, weil diese nicht separat erfasst, sondern unter den Prämissen Mediennutzung, Risikoverhalten und Gesundheitswissen mitbeschrieben werden.
Kinder und Jugendliche im Schulalter werden per se als kompetent im Umgang mit digitaler Technik angesehen, da sie als Digital Natives quasi mit dem Smartphone aufwachsen. Zugleich gelten sie als besonders anfällig für die inzwischen von der Weltgesundheitsorganisation als Erkrankung anerkannte Internetsucht.
Digitale Gesundheitskompetenz messen
Ein verbindliches Maß, um digitale Gesundheitskompetenz quantitativ zu erfassen, liegt bislang nicht vor. Acht Skalen, von denen sechs davon in der Publikation näher beschrieben sind, sind gegenwärtig weltweit ausgewiesen.
Alle Skalen beziehen sich auf das schon im Jahr 2006 entwickelte Konzept der eHealth-Literacy von C.D. Norman und H.A. Skinner (2). Dieses verknüpft sechs Komponenten:
- Traditional Literacy: Basiskenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen
- Information Literacy: die Kompetenz, Informationen aufzunehmen und zu verwenden
- Media Literacy: die Kompetenz, Medien kritisch zu hinterfragen
- Computer Literacy: die Kompetenz, elektronische Geräte sicher zu bedienen
- Health Literacy: die Kompetenz, gesundheitsförderliche Entscheidungen zu treffen
- Science Literacy: die Kompetenz, gesundheitsrelevante wissenschaftliche Ergebnisse zu verstehen, zu bewerten und zu interpretieren (2)
Der Fokus des Modells auf die Befähigung von Einzelpersonen wird inzwischen allerdings als zu einseitig bewertet. Kritiker weisen darauf hin, dass die Verantwortung für den Erfolg einer eHealth-Anwendung nicht ausschließlich dem Nutzer zugeschrieben werden kann. Vielmehr sollten auch die soziale und die kulturelle Dimension in der Nutzung digitaler Technik beachtet werden. Herstellern obliegt es, zielgruppenspezifische Angebote zu schaffen. Strukturen im Gemeinwesen sollen es ermöglichen, die eigene Gesundheit mittels digitaler Helfer erhalten oder verbessern zu können. Die Entfaltung von individuellen digitalen Gesundheitskompetenzen ist zudem abhängig vom soziokulturellen und sozialen Umfeld, in dem eine Person lebt.
Insbesondere Kinder und Jugendliche, so die Wissenschaftler, sind in der Regel keine einsamen Anwender von digitaler Technik. So entwickelt sich ihre Bereitschaft und ihre Befähigung, mit elektronischen Gesundheitsinformationen und -technologien umzugehen, insbesondere aus der Face-to-Face-Interaktion mit Gleichaltrigen. Zudem bleibt die Techniknutzung dieser Altersgruppe eingebettet in übergreifende familiäre Sozialisierungsmuster, die wiederum abhängig von sozioökonomischen Ressourcen und ethnischen Zugehörigkeiten sind. Diesbezüglich sind Faktoren, die die digitale Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen prägen, längst noch nicht vollständig beschrieben. Daher favorisieren die Wissenschaftler vorläufig ein das Basismodell ergänzendes, offenes Verständnis von digitaler Gesundheitskompetenz:
eHealth-Literacy ist das Zusammenspiel personaler und sozialer Faktoren bei der Nutzung digitaler Technologien im Suchen, Aneignen, Erfassen, Verstehen, Bewerten, Kommunizieren und Anwenden von Gesundheitsinformationen. Ziel von eHealth-Literacy ist es, die Lebensqualität über die gesamte Lebensdauer hinweg zu erhalten oder zu verbessern (3).
Chancen zur Überwindung des Präventionsdilemmas in der Schule
Das Präventionsdilemma weist auf Defizite infolge von Benachteiligungen hin. Es beschreibt ein auch in der Schule zu beobachtendes Paradoxon: In der Regel werden gerade diejenigen nicht von den Präventionsangeboten angesprochen, die am meisten davon profitieren würden (4). Programme zur Förderung von digitaler Gesundheitskompetenz in der Schule müssen sich, wenn sie effektiv sein sollen, auch daran messen lassen, ob sie zur Überwindung dieser Kluft beitragen.
Prinzipiell eröffnet das Spektrum der digitalen Gesundheitsprävention neue Möglichkeiten, Interessenten für die Vorbeugung oder Verzögerung von Erkrankungen zu gewinnen. Gesundheitsinformationen sind online inzwischen nahezu für jedermann zu jeder Zeit verfügbar. Auf dem ersten Blick scheint auch die bei Kindern und Jugendlichen quer durch alle sozialen Schichten vorhandene, sehr ausgeprägten Erfahrung im Umgang mit digitalen Medien und mit IT-Technik geeignet, Benachteiligungen zu verringern. Tatsächlich hat sich der Schwerpunkt von digitalen Ungleichheiten in den letzten 15 Jahren verschoben. Nicht mehr die sozial bedingten Beschränkungen des Zugangs zu digitalen Angeboten sind das Problem, sondern mehr und mehr die sehr unterschiedlich ausgeprägten Fähigkeiten, die digitale Gesundheitsinformationen und -technologien zu verstehen oder auch ihre Verlässlichkeit zu bewerten.
Die Autoren verweisen auf eine Vielzahl von Hindernissen, die der gleichberechtigten Verteilung von digitaler Gesundheitskompetenz bei Kindern und Jugendlichen entgegenstehen. Dazu zählen etwa Defizite in der Grundbildung wie zum Beispiel bei den Lese- und Schreibfertigkeiten auf der einen Seite und Mängel bei der Lesbarkeit und der Benutzerfreundlichkeit von digitalen Gesundheitshelfern auf der anderen. Ein Ausgleich soll unter anderem erreicht werden, indem die digitale Technik stärker an das unterschiedliche Bildungsniveau der Zielgruppen angepasst wird und möglichst auch an deren Sinn- und Werteverständnis angeknüpft.
Die Häufigkeit der Nutzung von digitalen Medien ist ungeachtet der davon ausgehenden positiven Impulse, so die Autoren, nur bedingt ein Indikator für digitale Gesundheitskompetenz. Studien zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit niederem sozialen Status im Durchschnitt wesentlich mehr Zeit vor Bildschirmen verbringen als Gleichaltrige aus besser gestellten Haushalten. Sie sind dabei im Schnitt eher gefährdet, gesundheitsschädigende Verhaltensweisen oder krankhafte Abhängigkeiten zu entwickeln. Medien- und Gesundheitskompetenzen sollten in der Zukunft daher stärker als bislang gemeinsam gefördert werden (5).
Darüber hinausgehend liegen in Hinblick auf die soziale Ungleichheit in der digitalen Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen noch zu wenige Forschungsergebnisse vor, um entsprechende Empfehlungen auszusprechen. Zusammenfassend schätzen die Autoren die Chancen, die digitalen Ungleichheiten durch die Schule zu überwinden, als gut ein. Unter anderem deshalb, weil Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit ihren Lehrkräften hier einen hohen Anteil ihrer Lebenszeit verbringen.
Die Initiative Teens4Elderly
Der Überwindung digitaler Ungleichheiten widmet sich die Assmann-Stiftung für Prävention unter anderem mit ihrem generationsübergreifenden Bildungswettbewerb Teens4Elderly. Primäres Ziel der Initiative Teens4Elderly ist es, digitale Prävention von Herz- und Gefäßerkrankungen zu fördern. Teens4Ederly basiert auf der Annahme, dass digitale Gesundheitskompetenz vor allem in der fachkundig angeleiteten, selbständigen Auseinandersetzung mit digitalen Präventionsangeboten erworben wird. Maßgeblich dabei ist nicht das punktuelle Ausprobieren von interaktiven Gesundheitstools, sondern das Erlernen eines gesamten Zyklus von digitaler Prävention. Generationenübergreifende digitale Prävention wird mit diesem Vorgehen erstmalig in der Schule praktisch erfahrbar und im Ansatz gestaltbar (6).
Das von der Assmann-Stiftung für Prävention und der F.A.Z. zur Verfügung gestellte Unterrichtsmaterial für den Bildungswettbewerb Teens4Elderly enthält ein originäres, wissenschaftlich fundiertes Drei-Stufen-Modell für die Realisierung des Anspruches (6). Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II sind gemeinsam mit ihren Lehrkräften eingeladen, im Unterricht über die Internetrecherche zu den Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu recherchieren. Darüber hinaus haben sie gemeinsam die Möglichkeit, mit dem Herzalter-Test (www.herzalter-bestimmen.de) ein Algorithmus-gestütztes Verfahrung zur individuellen Berechnung des biologischen Herzalters interaktiv nachzuvollziehen und dessen Aussagewert in der Lebenswelt der Familie in einem eigenständigen Projekt zu erkunden.
Für die folgende Umsetzung eines selbst gewählten Vorhabens steht den Teams unter anderem mit Scrum eine aus der Informatik adaptierte, professionelle Technik für die Projektarbeit zur Verfügung. Chancen, Risiken und Hindernisse für die digitale Herz-Kreislaufprävention in der Familie werden in Erfahrungsberichten reflektiert. Diese bilden den Ausgangspunkt für Empfehlungen zum Aneignen und Anwenden von digitaler Gesundheitskompetenz für Kinder und Jugendliche ebenso wie für Seniorinnen und Senioren. Im Mittelpunkt steht primär die Frage, wie digitale Prävention verstanden, verinnerlicht und im Alltag gewissenhaft angewendet werden kann. Erste Ergebnisse werden im Sommer 2020 veröffentlicht.
Zum Weiterlesen
(1) U.H. Bittlingmayer et al. (2020): Digitale Gesundheitskompetenz – Konzeptionelle Verortung, Erfassung und Förderung mit Fokus auf Kinder und Jugendliche. In: Bundesgesundheitsblatt, 2/2020. Online unter https://www.springermedizin.de/digitale-gesundheitskompetenz-konzeptionelle-verortung-erfassung/17571956
(2) C.D. Norman et al. (2006): eHealth Literacy: Essential Skills for Consumer Health in a Networked World. In: Journal of Medical Internet Research, Vol. 8, Nr. 2, e9. Online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC1550701/; daraus: Figure 1. eHealth literacy lily model
(3) J.R. Bautista (2015): From Solving a Health Problem to Achieving Quality of Life: Redefining eHealth Literacy. In: Journal of Literacy and Technology, Vol. 16, Nr. 2, S. 33-54. Online unter http://www.literacyandtechnology.org/uploads/1/3/6/8/136889/jlt_v16_2_bautista.pdf
(4) H.-U. Gebauer (2005): Das Präventionsdilemma. Potenziale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozialer Polarisierung. Wiesbaden: Springer VS Verlag. Online unter https://www.springer.com/us/book/9783531144764
(5) Sekretariat der Kultusministerkonferenz (2016): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 08.12.2016 in der Fassung vom 07.12.2017. Online unter https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2018/Strategie_Bildung_in_der_digitalen_Welt_idF._vom_07.12.2017.pdf
(6) Assmann-Stiftung für Prävention (2020): Teens4Elderly. Online unter https://www.teens4elderly.de/