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Bestimmte Nervenzellen erneuern sich ein Menschenleben lang. [40]

Bis zu einem Drittel bestimmter Nervenzellen bilden sich im Laufe des Lebens neu – dieser Nachweis gelang jüngst Wissenschaftlern von dem Karolinska-Institut in Stockholm (1). Noch bis zur Jahrtausendwende ging man davon aus, dass die Zahl der Zellen im menschlichen Zentralnervensystem mit fortschreitendem Alter abnimmt. Die Neubildung von Nervenzellen nach der Geburt galt als ausgeschlossen.  Erst 1998 identifizierte Peter Eriksson bei der Untersuchung der Gehirnsubstanz verstorbener Krebspatienten neu gebildete Zellen anhand von radioaktiven Markierungen in der DNA. Diese radioaktiven Marker waren den Patienten ursprünglich injiziert worden waren, um das Tumorwachstum visuell nachverfolgen zu können. Da die Marker nur während der  Zellteilungen in die DNA aufgenommen sein konnten, war so der Nachweis erbracht, dass es sich bei den markierten Zellen tatsächlich um Neubildungen handeln musste. Offen blieb, ob diese neuen Zellen im Gehirn eine Funktion übernehmen können (2).

Radioaktive Substanzen nutzen auch die schwedischen Forschern um Jonas Frisén und Kirsty Spalding, um zu beweisen, dass sich nach der Geburt neue Nervenzellen bilden. Infolge oberirdischer Atomtests in den Jahren zwischen 1945 – 1963 erhöhte sich die Konzentration des radioaktiven Kohlenstoff-Isotops C14 in der Atmosphäre, das über die Nahrungskette in den menschlichen  Körper gelangt. In der DNA von Hirnzellen lässt sich der C14 – Wert messen. Da dieser Wert auch in Abhängigkeit von der wechselnden Konzentration in der Außenwelt variiert, liefert er somit in Analogie zu Baumringen ein Indiz über das Alter der Zellen.

Aus den ermittelten C14 – Werten bei 55 Verstorbenen im Alter von 19 bis 92 Jahren errechneten die Wissenschaftler, dass sich bei Erwachsenen pro Tag ca. 700 neue Neuronen im Hippocampus bilden (1). Die neuen Nervenzellen liegen in einem Teil des Hippocampus, dem Gyrus dentatus, der primär für die Verarbeitung neuer Informationen, für das Lernen und für das Gedächtnis, zuständig ist.  So liegt die Frage nahe, ob die neuen Zellen schlicht die Leistungen der abgestorbenen ersetzen und Defizite reparieren könnten und möglicherweise ein Weg gefunden ist, psychiatrische und neurologische Erkrankungen, wie z.B. Depressionen und Demenzen, therapeutisch zu beeinflussen oder gar präventiv zu vermeiden.

Studien mit Mäusen zeigen zwar eine Verbindung zwischen Hirnzellenneubildung und Depressionsminderung, jedoch keinen ursächlichen – linearen Zusammenhang. Symptome von Depressionen treten bei einer erniedrigten Zahl an neugebildeten Hirnzellen erst unter Stress auf und können mit Antidepressiva erst dann gelindert werden, wenn die Tiere in einem stressarmen Umfeld leben. An dementen Mäusen wird beobachtet, dass sich die Zahl der neugebildeten Neuronen verringert, wenn im Verlaufe der Krankheit unwiederbringlich Hirnzellen absterben. Ob Demenz tatsächlich aufzuhalten ist, wenn die Nachlieferung von neuen Zellen intensiviert ist, bleibt ungeklärt. Dennoch konzentriert sich die Forschung auch auf Mechanismen, die die Neubildungen von Hirnzellen anregen.

In Untersuchungen an Mäusen und Affen konnte bislang gezeigt werden, dass sich gerade durch die dauerhafte Inanspruchnahme bestimmter Areale im Hippocampus Zellen neu bilden und weiter entwickeln können. Besonders wirksam sind – unter Laborbedingungen – neben Anregungen aus einer abwechslungsreichen Umgebung insbesondere motorische Anreize. Es wird vermutet, dass körperliche Aktivität die Konzentration von Wachstumsfaktoren (FGF-2) im Blut erhöht. Diese können im Gehirn die Blut-Hirnschranke überwinden und im Prinzip die Neubildung von Nervenzellen stimulieren (3). Bleiben die Stimulationen aus, sterben die neugebildeten Zellen allerdings rasch ab.  Laut aktuellem Forschungsstand ersetzen neue Hirnzellen die alten Zellen funktional im Netzwerk nicht, sondern unterstützen die Anpassung an veränderte Situationen. Inwieweit sich das Modell der Zellerneuerung von den Säugetieren auf den Menschen übertragen lässt, ist noch ungeklärt.

Nichts desto trotz sehen Wissenschaftler in der Neurogenese, die die Bildung von Nervenzellen aus Stamm- und Vorläuferzellen beschreibt, insbesondere ein Feld für Möglichkeiten in der Prävention. Denkbar sei, dass ein gezieltes Training die Flexibilität des menschlichen Gehirns im Alter länger erhalten und vielleicht auch den geistigen Abbau verzögern könne (4). In letzter Zeit häufen sich Belege in internationalen Studien, dass sich das Risiko, an Demenzen und Depressionen zu erkranken, insbesondere durch sportliche Betätigung signifikant verringern lässt (5;6). Noch gibt es für diesen Effekt keine schlüssige neurophysiologische Erklärung. Ungeachtet der Wissenslücken in der ursächlichen Erklärung von Zusammenhängen in der Neurogenese stimmen die Ergebnisse optimistisch, mit körperlicher und geistiger Aktivität  Fitness bis ins hohe Alter zu erhalten und auch wieder zu erlangen.


Zum Weiterlesen

(1) K.L. Spalding (2013): Dynamics of Hippocampal Neurogenesis in Adult Humans. In: Cell, Vol. 153, Nr. 6, S. 1219-1227. Online unter https://www.cell.com/abstract/S0092-8674%2813%2900533-3

(2) P.S. Eriksson (1998): Neurogenesis in the adult human hippocampus. In: Nature Medicine, Vol. 4, Nr. 11, S. 1313-7. Online unter https://www.nature.com/articles/nm1198_1313

(3) M.A. Kheirbek, R. Hen (2013): (Radio)active Neurogenesis in the Human Hippocampus. In: Cell, Vol. 153, Nr. 6, S. 1183-4. Online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4046854/

(4) G. Kempermann (2011): Seven principles in the regulation of adult neurogenesis. In: The European Journal of Neuroscience, Vol. 33, Nr. 6, S. 1018-24. Online unter https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/j.1460-9568.2011.07599.x

(5) L.F. Defina (2016): The Association between Midlife Cardiorespiratory Fitness Levels and Later-Life Dementia. In: Annals of Internal Medicine, Vol. 158, Nr. 3, S. 162-168. Online unter http://annals.org/aim/fullarticle/1567367/association-between-physical-fitness-dementia

(6) E. Zschucke, K. Gaudlitz, A. Ströhle (2013): Exercise and Physical Activity in Mental Disorders: Clinical and Experimental Evidence. In: Journal of Preventive Medicine & Public Health, Vol. 46, Suppl. 1, S12–S21. Online unter https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3567313/

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