Next-Generation Sequenzierungstechnologien & das 1000-Euro-Genom – Fortschritte für die Präventivmedizin?

Einführung

Abbildung: Sequenzierungskosten sinken rapideDas menschliche Genom wurde erstmalig im Jahr 2001 im Rahmen des Humangenomprojekts mit klassischen Sequenzierverfahren vollständig sequenziert [1,2]. Die Sequenzierung dauerte seinerzeit mehr als 10 Jahre, zeitweise haben über 1.000 Wissenschaftler aus 40 Ländern intensiv an dem Projekt gearbeitet und die Kosten betrugen ca. 3 Milliarden US Dollar [3,4]. Im Jahr 2006 dauerte die vollständige Sequenzierung eines einzelnen menschlichen Genoms immerhin noch mehrere Monate und es mussten ca. 10 Millionen Euro dafür aufgewendet werden [5]. Durch die Einführung neuer Hochdurchsatz-Sequenzierungstechnologien konnten die Kosten bis 2009 auf ca. 50.000 Euro gesenkt werden und die Sequenzierungsdauer konnte auf etwa eine Woche reduziert werden [6]. Im Januar 2012 haben mit Illumina und Life Technologies gleich zwei amerikanische Unternehmen neuartige Sequenzierungssysteme vorgestellt, mit denen ein menschliches Genom in wenigen Stunden für ca. 1.000 Euro sequenziert werden kann [7]. Der zeitliche Verlauf der Kosten für die Sequenzierung des menschlichen Genoms ist in Abb. 1 dargestellt.

Die Unterschreitung der Schwelle von 1.000 Euro für eine Gesamtgenomsequenzierung, man spricht auch vom 1000-Euro-Genom, gilt als nächster großer Meilenstein für die Genomforschung. In die medizinische Diagnostik haben die Next-Generation- Sequenzierungstechnologien bereits Einzug gehalten. Maßgeblicher Schritt dafür war die Einführung des ersten preiswerten Tischgeräts für die Hochdurchsatzsequenzierung im Jahre 2010, wodurch diese Technologie für immer mehr Labore nutzbar wurde. Im Folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, welche Fortschritte sich aufgrund der neuen Entwicklungen für die Präventivmedizin, insbesondere auch im Hinblick auf die personalisierte Medizin, abzeichnen.

Hochdurchsatzsequenzierung in der Diagnostik und das 1000-Euro-Genom in Reichweite: Fortschritt durch neuartige kleine Tischgeräte 

Abbildung: Benchtop SequenzierungsautomatenWährend herkömmliche DNA-Hochdurchsatz-Sequenzierungsautomaten  ein mittelgroßes Laboratorium ausfüllen, sind die seit knapp 2 Jahren verfügbaren „Benchtop“ Sequenziersysteme nicht viel größer als ein herkömmlicher Laserdrucker (Abb. 2). Durch Miniaturisierung, weitere Vereinfachung der Hochdurchsatzsequenzierungstechnologien und den damit verbundenen Preisvorteilen ist es den Herstellern so gelungen, diese Technologie einer großen Zahl von Laboren in Forschung und Diagnostik zur Verfügung zu stellen. Während der Trend in der Forschung zur Sequenzierung vollständiger Genome weiter an Fahrt gewinnt, beschränken sich Diagnostik-Labore auf die gezielte Sequenzierung einzelner genomischer Regionen, die bereits heute als molekulare Krankheitsmarker validiert sind. Die Beschränkung auf einen Bruchteil des Gesamtgenoms ist nicht nur aufgrund von rechtlichen Rahmenbedingungen wie dem Gendiagnostikgesetz, sondern auch aufgrund der Komplexität bei der Auswertung von Daten einer Gesamtgenomsequenzierung notwendig und sinnvoll. Die gezielte Sequenzierung einzelner oder mehrerer validierter molekularer Marker erlaubt eine schnelle und eindeutige Befundaussage und wird daher bereits heute für eine schnellere und kostengünstigere molekulargenetische Diagnostik in der Humangenetik, Onko- und Hämatologie eingesetzt.

Hochdurchsatzsequenzierung eröffnet Chance auf „personalisierte Medizin“

Größere krankheitsrelevante Genomregionen mit diagnostischer Genauigkeit oder gar die gesamte DNA eines Menschen für Forschungszwecke bei überschaubaren Kosten vollständig zu sequenzieren, eröffnet die Möglichkeit zur Identifizierung einer großen Zahl von Genvarianten. Da durch intensive molekularbiologische und klinische Forschung aktuell das Verständnis der fehlerhaften Prozesse, die durch Genvarianten im Stoffwechsel hervorgerufen werden, exponentiell ansteigt, ist zu erwarten, dass mittelfristig viele kausale Zusammenhänge im Hinblick auf Genvarianten und Krankheitsprozesse aufgeklärt werden. Ein Ziel dieser Bemühungen ist die sogenannte „personalisierte“ bzw. „individualisierte“ Medizin, in der therapeutische Maßnahmen auf die genetische Veranlagung des einzelnen Patienten optimal  abgestimmt werden.

In der Praxis beruht personalisierte Medizin auf folgenden Voraussetzungen bzw. beinhaltet folgende grundsätzliche Aspekte:

  1. Durchführung eines diagnostischen Tests, mit dem sich diejenigen Patienten mit gleicher Grunderkrankung ermitteln lassen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine bestimmte Therapie ansprechen werden, beispielsweise Identifizierung der BRAF-V600-Genmutation vor Behandlung mit einem Hautkrebsmittel.
  2. Auswahl eines geeigneten Arzneimittels zur Behandlung der Erkrankung, wobei dessen Wirksamkeit abhängig ist von individuellen Patientenmerkmalen, beispielsweise Behandlung mit einem Brustkrebsmittel bei Frauen mit einer hohen Konzentration des Proteins HER2 (ca. 20-30% der Brusttumore).
  3. Test auf mögliche Nebenwirkungen der Therapie, beispielsweise Nachweis des HLA-B*5701-Allels vor Behandlung mit einem AIDS-Mittel. Hierbei handelt es sich um einen Pflichttest, da ein positives Testergebnis das Risiko für das Auftreten einer Überempfindlichkeitsreaktion erheblich erhöht.
  4. In einigen Fällen kann auch die optimale Wirkstoffdosis auf Grundlage eines genetischen Testergebnisses festgelegt werden. Ein praxisrelevantes Beispiel für eine entsprechende Anwendung stellt ein Immunsuppressivum dar, dessen Dosis bei nachgewiesenem TPMT-Mangel gegenüber der Normaldosis herabgesetzt werden muss.

Neben vielen mittelständischen Unternehmen setzen auch die großen Pharmakonzerne auf das Konzept der personalisierten Medizin, von dem sie sich erhebliche Wachstumsimpulse und eine Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten für die Patienten versprechen. Wissenschaftlichen Studien zufolge mangelt es konventionellen Medikamenten nicht selten an Zielgenauigkeit und in Einzelfällen treten während der Behandlung zum Teil erhebliche Nebenwirkungen auf. Personalisierte Medizin zielt darauf ab, diese Nachteile nach Möglichkeit zu vermeiden. Grundsätzlich gilt deshalb, dass personalisierte Medizin perspektivisch dazu beitragen wird, wirkungslose Behandlungen und Nebenwirkungen zukünftig zu minimieren und somit sowohl die Kosteneffizienz als auch die Behandlungssicherheit maßgeblich zu verbessern.

Aktuell zugelassene Wirkstoffe im Bereich der personalisierten Medizin

In Deutschland sind nach Angaben des Branchenverbands VfA aktuell 24 Wirkstoffe zugelassen, vor deren Anwendung ein Gentest oder ein Test, der den Genstatus indirekt ermittelt, vorgeschrieben oder empfohlen wird (Tab. 1). Dazu gehören 19 zumeist biotechnologisch hergestellte Krebsmittel, vor deren Anwendung bestimmte molekulare Eigenschaften der Krebszellen nachgewiesen werden müssen, um die therapeutische Wirksamkeit sicherzustellen.  Außerdem beinhaltet die in der Tabelle 1 dargestellte Liste zwei Wirkstoffe gegen HIV/AIDS, ein Immunsuppressivum, ein Epilepsiemittel sowie ein Mittel, das zur Behandlung der Multiplen Sklerose eingesetzt wird.

Für den gesamten Bereich der Molekulardiagnostik prognostizieren Branchenexperten wie die Frankfurter Beratungsgesellschaft BCNP Consultants jährliche Zuwachsraten von 10 bis 15 Prozent. Die Beratungsgesellschaft PWC veranschlagt den Umsatz, der mit personalisierten Arzneimitteln und den dazugehörigen Diagnostika insgesamt erwirtschaftet wird, auf derzeit 18 Milliarden Euro. Bis 2015 soll sich diese Summe nach entsprechenden Schätzungen verdoppeln.

In wichtigen Therapiefeldern, wie Diabetes, Arthritis, Hypertonie oder kardiovaskuläre Erkrankungen, sind bisher noch keine praxisrelevanten individualisierten Therapieansätze verfügbar. Wegen der sehr dynamischen Entwicklung auf diesem Gebiet, ist jedoch damit zu rechnen, dass auch in diesen Bereichen personalisierte Therapieansätze, einschließlich entsprechender Companion-Diagnostika,  zunehmend an Bedeutung gewinnen werden. Inwieweit sich die Gesamtgenomsequenzierung gegenüber gezielteren diagnostischen Verfahren in der Praxis durchsetzen wird, bleibt jedoch abzuwarten. Für die bisherigen Anwendungen im Rahmen der personalisierten Medizin ist eine Sequenzierung des gesamten Erbguts kaum notwendig, da einzelne Genvarianten bzw. der Nachweis bestimmter Biomarker, die den Genstatus indirekt ermitteln, ausreichend für die Therapieentscheidungen sind. Es muss auch deutlich gesagt werden, dass die Voraussetzungen dafür, die Genomsequenz sinnvoll zu interpretieren, aktuell kaum gegeben sind. Man erhält im Wesentlichen eine Liste mit Tausenden von Sequenzvariationen, deren funktionelle Bedeutung größtenteils unklar ist. Es wird vermutlich mindestens noch ein Jahrzehnt vergehen, bis derartig komplexe Datensätze in ihrer Gesamtheit sinnvoll interpretiert werden können.

Ist die Genomsequenzierung zur Prädiktion von Erkrankungsrisiken sinnvoll?

Die Prädiktion von Erkrankungsrisiken spielt eine wichtige Rolle für die Prävention von häufig auftretenden Volkskrankheiten, einschließlich Diabetes, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Krebserkrankungen, da durch Früherkennung von Erkrankungsrisiken Präventionsmaßnahmen frühzeitig und zielgerichtet eingeleitet werden können. Es wird angenommen, dass ein erheblicher Teil des Erkrankungsrisikos (je nach Erkrankung zwischen 20 und 60%) für die häufigen Volkskrankheiten durch vererbbare Faktoren bedingt ist, die man als „genetische Prädisposition“ bezeichnet. Hierbei sind Genvarianten maßgeblich beteiligt, die zumeist im Zusammenwirken mit Umweltfaktoren zu einem angeborenen erhöhten Erkrankungsrisiko führen. Es stellt sich deshalb die Frage, inwieweit die Genomsequenzierung einen sinnvollen Beitrag zur Erfassung der genetischen Prädisposition leisten kann.

Für alle wichtigen Volkskrankheiten konnten in umfangreichen Studien, bei denen hochauflösende DNA-Chips in sogenannten genomweiten Assoziationsstudien eingesetzt wurden, eine große Anzahl von Varianten identifiziert werden, die das Erkrankungsrisiko beeinflussen. In diesen Studien wurden folgende grundlegenden Ergebnisse erzielt:

  • Ein erheblicher Teil der genetischen Varianten beeinflusst bereits bekannte Risikofaktoren, sodass Ergebnisse aus genetischen Verfahren keinen Mehrwert gegenüber bereits etablierten konventionellen diagnostischen Verfahren bieten.
  • Für die überwiegende Mehrzahl der Genvarianten sind die fehlerhaften Prozesse, die dadurch im Stoffwechsel hervorgerufen werden, noch unklar.
  • Die Effekte einzelner Genvarianten auf das Erkrankungsrisiko sind in der Regel nur sehr schwach. Entsprechende Risikoerhöhungen bzw. protektive Effekteliegen normalerweise zwischen 5 und 20%. In der Summe erklären die bisher beschriebenen Varianten höchstens 10% des gesamten angenommenen genetischen Erkrankungs-risikos.
  • Für die Ausprägung aller multifaktoriellen Erkrankungen spielen Interaktionen zwischen Genvarianten und Umweltfaktoren eine wichtige Rolle. Die Zusammenhänge sind im Detail aber noch weitgehend unerforscht, sodass eine Genomsequenzierung nicht ausreichen wird, um Erkrankungsrisiken präzise zu quantifizieren.
  • Genotyp-Punkteschemata, die entwickelt wurden, um Effekte mehrerer Genvarianten quantitativ zu erfassen, besitzen aktuell nur eine geringe diagnostische Sensitivität und Spezifität.

Aufgrund dieser Sachverhalte erscheint es derzeit noch verfrüht, Ergebnisse aus einer Genomsequenzierung zur Prädiktion von Erkrankungsrisiken für häufig auftretende Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit, Schlaganfall und Krebs heranzuziehen. Daher sind kommerziell beworbene Gesamtgenom-Sequenzierungen zum Screening von Privatpersonen eher als kontraproduktiv einzuschätzen. Sie decken stets Millionen von Mutation mit fragwürdiger klinischer Relevanz auf, die lediglich zur Verunsicherung von Arzt und Patient führen und aktuell – trotz rapide gesunkener Kosten für die Sequenzierung – ihr Geld nicht wert sind. Es wird vermutlich mindestens noch ein Jahrzehnt vergehen, bis die Komplexität der Interaktionen zwischen Genom und Umwelt soweit verstanden wird, dass eine Genomsequenzierung präzise Erkenntnisse im Hinblick auf derartige Erkrankungsrisiken ermöglicht. Eine ausführliche Darstellung von Ergebnissen der aktuellen Genomforschung im Bereich der kardiovaskulären Erkrankungen kann diesem Artikel entnommen werden. Hier werden auch Empfehlungen  formuliert, die bei der Durchführung von genetischen Untersuchungen generell beachtet werden müssen.

Erkenntnisse, die sich bereits heute aus einer Genomsequenzierung ableiten lassen

Obwohl aktuell noch weitgehend die Voraussetzungen dafür fehlen, die Genomsequenz in ihrer Gesamtheit sinnvoll zu interpretieren, gibt es bereits heute ein medizinisch wichtiges Ergebnis, das sich aus einer Genomsequenzierung ableiten lässt: In der HGMD-Datenbank (www.hgmd.org), ein zentrales Register für Genvarianten, werden über 100.000 Genvarianten geführt, die nachgewiesenermaßen mit medizinisch relevanten Effekten assoziiert sind.  Ein beträchtlicher Teil dieser Genvarianten verursacht direkt eine genetische Erkrankung. Eine qualitativ hochwertige Genomsequenzierung sollte auf jeden Fall in der Lage sein, derartige Varianten im Genom aufzuspüren und heterozygote Träger zu identifizieren. Inwieweit das 1000-Euro-Genom diesen Anspruch erfüllt, können wir allerdings aktuell noch nicht mit Sicherheit beantworten.

Ausblick

Für die meisten Menschen ist die Sequenzierung ihres eigenen Genoms heute zwar kaum ein Thema; rapide sinkende Sequenzierungskosten –  in Kürze die Unterschreitung der Schwelle von 1000 Euro für eine Genomsequenzierung – eröffnet aber die Chance, dass die neue Technik eher früher als später zur medizinischen Routine wird. Durch die dynamisch verlaufende Forschung  in Bereichen, wie Bioinformatik, funktionelle Genomik und Metabolomik wird unser Verständnis im Hinblick auf funktionelle Konsequenzen von Genveränderungen rascher als noch vor kurzem angenommen immer weiter perfektioniert. Cloud-Computing eröffnet die Möglichkeit, abstrahierte IT-Infrastrukturen, wie Rechen- und Netzwerkkapazitäten, Datenspeicher und Software für Auswertung und Management der immensen Datenmengen, die im Rahmen von Genomsequenzierungen generiert werden, bereitzustellen. Denkbar wäre der Zugriff auf die entfernten Systeme über gesicherte Netzwerke, ähnlich sogenannter „Private Clouds“, um Sicherheit und Vertraulichkeit der hoch sensiblen genetischen Daten zu gewährleisten. Derartige Cloudlösungen wären besonders effizient, da durch gemeinsame Nutzung von Ressourcen Poolingeffekte realisiert werden können. Ob es sinnvoll ist, bereits in wenigen Jahren eine Genomsequenzierung durchzuführen, um etwas über Erkrankungs-risiken zu erfahren bzw. personalisierte Therapieansätze zu unterstützen, kann zwar aktuell nicht eindeutig beantwortet werden. Eine intensive gesellschaftliche Diskussion über dieses komplexe Thema erscheint aktuell extrem sinnvoll. Für die Assmann-Stiftung für Prävention ist es deshalb ein wichtiges Anliegen, Ärzte und die breite Öffentlichkeit mit entsprechenden Hintergrundinformationen  zu versorgen.


Quellen

[1] The human genome Special Issue. In: Science 2001, Vol. 291, S. 1145-1434.

[2] The human genome. Special Issue. In: Nature 2001, Vol. 409, S. 745-964.

[3] L. Roberts et al. (2001): A History of the Human Genome Project. In: Science, Vol. 291, Nr. 5507, S. 1195-1195.

[4] L. Roberts (2001): The human genome. Controversial from the start. In: Science, Vol. 291, Nr. 5507, S. 1182-1188.

[5] J.M. Kidd et al. (2008): Mapping and sequencing of structural variation from eight human genomes. In: Nature, Vol. 453, Nr. 7191, S. 56-64.

[6] N. Wade (2009): Cost of Decoding a Genome Is Lowered. In: The New York Times.

[7] L. DeFrancesco (2012): Life Technologies promises $1,000 genome. In: Nature Biotechnology, Vol. 30, Nr. 2, S. 126.