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Zur Epidemiologie globaler Mikronährstoffdefizite [106]

Mit vier prägnanten Schlüsselaussagen wird das Potential einer globalen Prävention von Mikronährstoffdefiziten im Grundsatzartikel The Epidemiology of Global Micronutrient Deficiencies von Robert E. Black, Regan L. Bailey und Keith P. West charakterisiert:

  1. Mikronährstoffdefizite wirken sich nicht nur gravierend negativ auf den Gesundheitszustand aus, sondern begrenzen zugleich auch das Bildungsniveau und das Leistungsvermögen einer Gesellschaft.
    Ernährung ist der stärkste und vor allem der am meisten beeinflussbare Faktor, um die Last von Krankheit und frühem Tod im Verlaufe der individuellen Lebenspanne direkt und im Zyklus einer Gesellschaft indirekt mindern zu können.
  2. Mikronährstoffdefizite sind vermeidbar. Der durch die Prävention von Mangelernährung zu erreichende Effekt übersteigt um ein Vielfaches die Summe der dazu nötigen Investitionen. Allerdings sollten die Interventionen gezielt auf die Ursachen und auf den spezifischen Wirkungsradius eines Mikronährstoffdefizits ausgerichtet sein.
  3. Das Verständnis des Zusammenspiels von biochemischen Parametern und klinischen Einschränkungen ist die maßgebliche Voraussetzung, um das Ausmaß der globalen Last von Mikronährstoffdefiziten adäquat beschreiben zu können. Beispielsweise können Infektionen und Entzündungen Biomarker für den Ernährungsstatus beeinflussen und ihre Aussage verzerren.
  4. Schädigungen durch Mangelernährung manifestieren sich primär in den ersten 1.000 Tagen des Lebens, ab der Empfängnis gerechnet, und sind dadurch vererbbar. Maßnahmen im Zeitfenster von der Schwangerschaft bis zum Kleinkindalter eignen sich daher besonders, um den Kreislauf von Mangelernährung und körperlicher und geistiger Verkümmerung über Generationen hinweg nachhaltig zu durchbrechen. Ob ein lebenslanger Konsum fortifizierter Lebensmittel sinnvoll ist, wäre unter diesem Aspekt neu zu prüfen. Mehrdimensionale Strategien sowie kurz- und langfristige Lösungen sind erforderlich, um Mikronährstoffdefizite effektiv zu bekämpfen. Um geeignete Interventionsstrategien entwickeln und auswählen sowie um sie an die verschiedenen, regional unterschiedlichen Bedingungen anpassen zu können, bedarf es des Sachverständnisses der Epidemiologie von Mikronährstoffdefiziten.

Die Wissenschaftler kommentieren in der jetzt in den Annals of Nutrition and  Metabolism veröffentlichten Abhandlung den international erreichten Kenntnisstand zu den Ursachen und zur Wirkungsweise der am weitesten verbreiteten Mikronährstoffdefizite. Im Detail sind die Implikationen eines Mangels von Eisen, Vitamin A, Jod, Folsäure und Zink einzeln und in Wechselwirkung beschrieben. Fachwissenschaftlich begründete Überlegungen zu den gängigen Interventionsstrategien und zum ökonomischen Impact von Mikronährstoffdefiziten runden die Darlegung ab.

Im nachfolgenden können die  Einschätzungen nur stichpunktartig vorgestellt werden;  ein Nachlesen im Detail wird den Blick in die faszinierende Welt der Mikronährstoffe erweitern.

Mikronährstoffdefizite bestimmen

Unter dem Begriff Mikronährstoffe sind alle Vitamine und Mineralstoffe zusammengefasst, die der menschliche Organismus aufnehmen muss, um seine zellulären und molekularen Funktionen zu  erhalten. Obgleich die Menge der essentiell benötigten Mikronährstoffe sehr gering ist, sind Krankheit und früher Tod die Konsequenz, wenn sie fehlt oder auch überdosiert wird.

Der Ernährungsstatus in Hinblick auf einen Mikronährstoff kann also charakterisiert werden, entlang einer gedachten Linie zwischen Mangel und Übermaß. Die Punkte auf dieser Linie werden bestimmt durch Biomarker aus dem Blut oder dem Urin, durch Angaben zur Ernährung und durch funktionelle Parametern, wie ein zu niedriges oder zu hohes Geburtsgewicht oder ein für das Alter zu geringes Längenwachstum.

Schwierigkeiten bei der Interpretation der Daten entstehen, weil Biomarker nicht immer verfügbar sind, unterschiedlich gemessen werden und außerdem durch Entzündungen, Infektionen, Alter, Hydrationsstatus  und Nierenaktivitäten beeinflusst sind. Ernährungsdaten werden vor allem in den Entwicklungsländern nicht flächendeckend gesammelt. Außerdem sind in Ernährungsdatenbanken die (aktuellen) Besonderheiten des Erhebungsgebietes bislang kaum berücksichtigt. Angaben zu funktionellen Parametern lassen nicht immer eindeutige Rückschlüsse auf ein Mikronährstoffdefizit zu, weil zu viele andere Faktoren etwa das Geburtsgewicht und das Wachstum eines Kindes mit beeinflussen. Doch selbst wenn Biomarker- und Ernährungsdaten fehlen, weisen gehäuft auftretende, physische Auffälligkeiten in einem Land immer auch auf einen gravierenden Mikronährstoffmangel hin.

Ursachen

Das Mikronährstoffdefizit ist nur eine und die am wenigsten sichtbare Form von Mangelernährung und wird daher häufig verborgener Hunger genannt. Der Mangel ergibt sich aus der zu geringen Aufnahme von Nährstoffen, deren Absorption im Körper infolge von Entzündungen, Infektionen etc. zusätzlich gemindert werden kann. Mangelernährung wird durch einen ungesunden Lebensraum und durch unzureichendes Ernährungswissen sowie durch Armut, Ernährungsunsicherheit und einen unzulänglichen  Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen verstärkt. Die höchste Last der Mikronährstoffdefizite tragen Länder mit niedrigen und mittleren Einkommen, jedoch sind bestimmte Bevölkerungsgruppen in den Industrienationen gleichermaßen betroffen. Mangelernährung, Folgeerkrankungen und Armut verstärken sich in einem Zyklus, der sich über Generationen hinweg ständig erneuert.

Eisen

Eisen ist als Mineralstoff wesentlicher Bestandteil des Hämoglobins und essentiell notwendig für den Sauerstofftransport und die Zellatmung. Es wird ebenso für das optimale physische Wachstum und die hinreichende Ausbildung kognitiver Funktionen benötigt. Geschätzt leidet heute mehr als 30 Prozent der Weltbevölkerung unter Eisenmangel. Das Defizit wird verbunden mit einem zu niedrigen Geburtsgewicht,  Frühgeburten, einem geschwächten Immunsystem  und mit perinatalen Komplikationen. Der Eisenstatus wird in der Regel über das Plasmaferritin, ein Eiweißkomplex, das Eisen speichert, ermittelt. Da der Ferritinwert auch als ein Marker für akute oder chronische Krankheiten zu Rate gezogen wird, können Ferritin-Tests irreführende Ergebnisse bei Mangelernährung liefern. Chronischer Eisenmangel ist ein Grund für die Eisenmangelanämie, die über den Hämoglobinwert diagnostiziert wird. Die WHO schätzt, dass 25 Prozent der Weltbevölkerung, d.h. 1,62 Milliarden von einer Eisenmangelanämie betroffen sind. Vorschulkinder tragen vor allem in Afrika und in Südostasien mit einem Anteil von 47,4 Prozent und Schwangere mit 41,8 Prozent das größte Risiko; auch wird die Eisenmangel-Anämie für bis zu 20 % der Müttersterblichkeit verantwortlich gemacht. Eine Eisenanreicherung der Ernährung während der Schwangerschaft ist alltägliche Praxis, doch bei Malariaerkrankungen beispielsweise kann sie die Auswirkungen verschlimmern.

Vitamin A

Vitamin A ist ein fettlösbares Vitamin mit vielfältigen Funktionen. Es hilft bei der Teilung und beim Schutz der Zellen, bei der Organ- und Knochenbildung und beim Wachstum. Vitamin A-Mangel verstärkt die Rate und den Verlauf von Infektionskrankheiten und ist so eine maßgebliche Ursache für die hohe Kindersterblichkeit besonders in Afrika und Südostasien. Und rund jede zehnte schwangere Frau aus einer armen Familie ist von diesem Defizit betroffen. Vitamin-A-Mangel wird in der Regel über das Serum-Retinol diagnostiziert oder aber über Augenfunktionsprüfungen, z.B. bei  Nachtblindheit. Geschätzt bis zu 500 Millionen Kinder weltweit sind infolge des Vitamin-A-Mangels erblindet. Über die Zahlen der  Vitamin-A-mangelernährten Erwachsenen und älteren Kinder besonders in Afrika und Asien ist am wenigstens bekannt – hier wird von einer sehr hohen Dunkelziffer ausgegangen. Vitamin-A-angereicherter Zucker findet häufig in Hilfsprogrammen Verwendung, um Defizite auszugleichen. Cochrane-Studien legen nahe,  diese Nahrungsergänzungen bei Müttern, Neugeborenen und Säuglingen auf ein Mittelmaß zu begrenzen.

Jod

Der Mineralstoff Jod wird für die Synthese des Schilddrüsenhormons benötigt, das das Wachstum und die Entwicklung insbesondere des Zentralnervensystems regulieren hilft. Jodmangel in der frühen Schwangerschaft kann zu irreversiblen neurologischen Schädigungen des Kindes führen. Obgleich die besondere Fürsorge beim Joddefizitausgleich Schwangeren gilt, mangelt es global an entsprechenden Daten von Betroffenen. Rund die Hälfte der europäischen Bevölkerung ist derzeit jodunterversorgt, mehr als 500 Millionen sind es in Südostasien, weltweit etwa 2 Milliarden. Etwa 30 Prozent der Schulkinder in der Welt, rund 241 Millionen, mangelt es an Jod.

In der Regel wird der Ernährungsstatus über den Jodgehalt im Harn ermittelt.  Überlegungen, das Schilddrüsenhormon als Biomarker für Jodmangel zu nutzen, haben sich bislang nicht durchgesetzt, weil offensichtlich deren Sensitivität nicht ausreicht. Mit Jod angereichertes Salz ist die gängigste und preiswerte Variante, die tägliche Jodzufuhr zu steigern.

Folsäure

Folsäure ist ein Überbegriff für unterschiedliche B-Vitamine. Als Wirkstoff an der Synthese, Stabilisierung und Reparatur der DNA  beteiligt, ist es ein Faktor bei epigenetischen Veränderungen. Fehlt Folsäure in  der Schwangerschaft, kann es zu fötaler Wachstumsverzögerung und fötalen Nervenschädigungen kommen, ebenso zu einem zu niedrigen Geburtsgewicht. In mehr als 75 Ländern gehört Folsäureanreicherung von Lebensmitteln, insbesondere von Mehl, zum Alltag. Die Auswirkungen von Folsäuredefiziten und deren Fortifikation bei Frauen nach der Menopause, bei Männern und bei Kindern sind unzureichend geklärt.

Zink

Zink als ein für den Zellstoffwechsel unverzichtbarer Mineralstoff wird für mehr als 200 Enzyme benötigt. Es stabilisiert das Immunsystem und wird außerdem für das Wachstum und die Entwicklung in utero bis zur Pubertät benötigt.  Da der menschliche Organismus Zink nicht langfristig speichern kann, ist eine permanente Zufuhr von außen nötig, um all die zinkabhängigen Stoffwechselprozesse aufrecht zu erhalten. Wegen seiner vielfältigen Funktionen ist es schwierig, einen einzelnen Biomarker für den Zinkstatus zu entwickeln. Die Bioverfügbarkeit von Zink wird durch pflanzliche Nahrungselemente wie Ballaststoffe, durch Kalzium und Kasein sehr leicht verringert. Zinkmangel ist mit Durchfall und akuten Atemwegserkrankungen, den maßgeblichen Todesursachen bei Unterfünfjährigen in den Entwicklungsländern, verbunden. Geschätzt 17,3 Prozent der Weltbevölkerung leiden unter Zinkmangel, jeder Vierte davon lebt in Afrika und jeder Fünfte in Asien.

Multiple Defizite

Ein Mikronährstoffdefizit tritt selten allein auf, in der Regel wirkt das Ensemble von Vitaminen und Mineralstoffen aufeinander ein. Noch liegen zu wenige Daten vor, um systematische Aussagen über multiple Mikronährstoffdefizite treffen zu können. Zu den 20 Ländern mit dem größten verborgenen Hunger nach Eisen, Vitamin A und Zink zusammen zählen afrikanische Staaten, Indien und Afghanistan. Jodmangel in einer Region ist zwar eher ein singuläres Kennzeichen einer Region, jedoch kann die gleichzeitige Unterversorgung mit  anderen Mikronährstoffen wie Selen, Eisen und Vitamin A die Effekte des Jodmangels verstärken.

Hilfsprogramme bei Mikronährstoffmangel

Nahrungsmittelergänzungen schaffen nur eine kurzzeitige Abhilfe bei Mikronährstoffdefiziten, weil sie nicht die Mangelursache beseitigen. Ihr Erfolg setzt Bildungsprogramme voraus, die die Akzeptanz von angereicherten Lebensmitteln erhöhen. Eine Ergänzung der häuslichen Ernährung mit kombinierten Mikronährstoffnanopartikeln in der häuslichen Umgebung hat sich vor allem bewährt, um Eisenmangelanämien zu reduzieren, doch fehlen belastbare Daten für deren Anwendung besonders in Malariagebieten. Eine Änderung der Ernährungsgewohnheiten reicht oft nicht aus, um den Mikronährstoffmangel dauerhaft auszugleichen. Biofortifikation, also die Anreicherung des Nährstoffgehalts von Nahrungsmitteln durch Pflanzenzucht, kann eine weitere Option sein. Landwirtschaftliche Methoden zur Verbesserung der Nahrungsmittelverfügbarkeit gehören eher zu den langfristig wirksamen Maßnahmen. Tragen Infektionen zu den Ursachen des Mikronährstoffmangels einer Region mit bei, wird der Ausgleich des Nährstoffdefizits allein das Problem nicht lösen können. Hier sind komplexe Interventionen  im Gesundheitswesen gefragt, um die Krankheitslast zu mindern.

Ökonomischer Impact

Rund 11 Prozent des Bruttosozialproduktes in Afrika und Asien gehen verloren, weil Mikronährstoffdefizite den Gesundheitszustand ganzer Bevölkerungen verschlechtern und die Bildungs- und Arbeitskapazität, also das Lebenserwerbspotential maßgeblich verringern. Umgekehrt zeigen Studien, dass sich allein durch Verbesserung der Ernährung in frühen Lebensphasen die Leistungsfähigkeit einer Bevölkerung um mehr als fünfzig Prozent steigern lässt. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen von Mikronährstoffdefiziten manifestieren sich in den ersten 1.000 Tagen des Lebens. Schäden, die in diesem Zweitfenster entstehen, erhöhen das Risiko für chronische Krankheiten und frühen Tod nicht nur im späteren Leben, sondern, da sie vererbt werden können, auch für die Nachkommen. Präventive Hilfestellungen in der frühen Phase des Lebens für eine ausreichende Versorgung mit Mikronährstoffen können besonders effektiv sein, um Gesundheit intergenerativ zu erhalten. Die Autoren unterstreichen die immense Bedeutung von Ernährungsmustern für die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung und räumen zugleich ein, dass die Kenntnisse über die komplexen Zusammenhänge noch ganz am Anfang stehen.

Zum Weiterlesen:

R. L. Bailey, Keith P. West und Robert E. Black. The Epidemiology of Global Micronutrient Deficiencies. Ann Nutr Metab 2015;66(suppl 2):22–34. DOI: 10.1159/000371618. Abrufbar über den Link: http://www.karger.com/Article/FullText/371618

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