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Verborgener Hunger (Hidden Hunger) – ein Problem nicht nur in Entwicklungsländern [73]

Übergewichtig, gesättigt und trotzdem hungrig?
Dieser paradox anmutende Zustand lässt sich mit dem Terminus technicus des Hidden Hungers, des verborgenen Hungers, anschaulich umschreiben.

Verborgener Hunger wird durch die chronische Unterversorgung mit  Mikronährstoffen, wie z.B. Mineralien, Spurenelementen und Vitaminen ausgelöst.

Diese Mikrokomponenten der Nahrung sind für den menschlichen Organismus ebenso unentbehrlich wie die drei klassischen Makrobestandteile Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette (1). Anders als der Mangel von Makronährstoffen, der im Körper rasch spürbar ist, äußern sich die Defizite in der Mikronährstoffbilanz über einen längeren Zeitraum nicht in klinischen Symptomen. Sie wachsen im Verborgenen und bleiben dabei lange unbeachtet – mit gravierenden Folgen. Kinder, die in den ersten beiden Lebensjahren eine viel zu geringe Menge an Mikronährstoffen erhalten, leiden später an irreversiblen Störungen in ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung und darüber hinaus einer Verkürzung ihrer Lebenserwartung.

Das auch gesundheitspolitisch brisante Thema des Hidden Hungers ist u.a. in einem Symposium der Leopoldina Nationale Akademie der Wissenschaften unter dem Titel Ursachen, Folgen und Möglichkeiten zur Bekämpfung der Weltseuche Nährstoffmangel – Hidden Hunger umfassend und systematisch erörtert worden (2).

Die Forschergruppe um Hans K. Biesalski hat dabei Ansätze aufgezeigt, wie mit Hilfe von Prävention und Intervention die Ursachen und die Symptome einer Unterversorgung  mit Mikronährstoffen gemindert werden können.
Das Konzept wird im nachfolgenden vorgestellt (3).

Anzeichen und Symptome von Hidden Hunger

Hidden Hunger geht mit verschiedensten Störung der mentalen und körperlichen Entwicklung von Kindern einher.

Eine deutliche Abweichung der Körpergröße und des Körpergewichts bei Kindern von dem für die jeweilige Altersgruppe errechneten Mittelwert nach unten gilt neben schweren Krankheiten während der Wachstumsphase auch immer als ein Zeichen für frühkindliche Mangelernährung. Biesalski unterscheidet drei Phänotypen der Unterernährung:

– das niedrige Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße (Wasting)

– die nicht altersentsprechende (zu kleine) Körpergröße (Stunting)

– das nicht altersentsprechende (zu niedrige) Körpergewicht (Untergewicht).

Nach Angaben der WHO leiden 186 Millionen Kinder unter 5 Jahren, rund 30 %, weltweit an Stunting, 115 Millionen an Wasting und 20 Millionen an schwerster und lebensbedrohender Mangelernährung.

Am weitesten verbreitet ist die Unterversorgung mit Eisen, Jod, Zink und Vitamin A.

Die Folgen des Mangels an diesen Mikronährstoffen werden im Konzept mit folgenden Symptomen exemplarisch, also nicht abschließend, geschildert (4):

Eisen: Häufung von Anämien, Beeinträchtigung von Gehirnentwicklung und Verhalten, begrenzte Lernfähigkeit bei Lesen, Schreiben und Assoziieren, Verstärkung von Angst und Depression
Zink: Wachstumsverlangsamung (Stunting), eingeschränktes Immunsystem, Schleimhautentzündungen, Häufung von Durchfallerkrankungen, Lungenentzündungen und Malaria
Jod: Störung der mentalen Entwicklung
Vitamin A: Erblindung, Nachtblindheit, Atemwegsinfekte, Lungenfunktionsstörungen

.

Viele Faktoren für den Hidden Hunger und dessen Folgen sind noch unbekannt.

Sicher ist jedoch, dass die Mikronährstoffe im Organismus vernetzt und im Wechselspiel mit anderen Stoffwechselkomponenten wirken. Oft kann nicht beurteilt werden, ob die Symptome auf den singulären Mangel nur eines Mikronährstoffes zurückzuführen sind oder auf einen Mangelkomplex. Beispielsweise vergrößern

Zink- und Kupferdefizite auch eine leichte Eisenanämie. Umgekehrt signalisiert der identifizierte Mangel an einem Mikronährstoff die Unterversorgung von anderen. Ein Vitamin A-Mangel-Risiko betrifft so z.B. auch Eisen, Zink, Selen und essentiellen Aminosäuren mit.

Hidden Hunger und Infektionskrankheiten verstärken sich in den Effekten wechselseitig. Schon eine moderate Mangelernährung ohne sichtbare klinische Anzeichen verschlechtert über ein ohnehin geschwächtes Immunsystem das Erscheinungsbild von Infektionskrankheiten wie Malaria, Masern, Tuberkulose signifikant. Die hohe Kinder- und Muttersterblichkeit in den Entwicklungsländern steht ebenso in einem direkten Bezug zum Hidden Hunger (5).

Mit dem Global Hunger-Index werden die sichtbaren Folgen einer Mangelernährung sozioökonomisch erfasst, in dem weltweit die Zahl der Unterernährten, die Zahl der betroffenen Kinder unter 5 Jahren und die Zahl der vor dem 5. Lebensjahr  verstorbenen Kinder in Bezug gesetzt sind (6). Der Global Hunger – Index zeigt das Ausmaß der bestehenden chronischen Mangelernährung gegenwärtig an und erlaubt Vorhersagen auf künftige Hungerszenarien.

Sozioökonomische Ursachen des Hidden Hungers

Hidden Hunger folgt aus dem zu einseitigen Nahrungsangebot. Armut ist die wesentliche Ursache für eine auch qualitativ unzureichende Ernährung und Hauptgrund für die Ernährungsunsicherheit, die nach Ansicht der Welternährungsorganisation FAO dann entsteht, wenn Menschen der dauerhafte Zugang zu gesunden und nahrhaften Lebensmitteln verwehrt ist.

Die schweren Fälle einer Nährstoffunterversorgung treten zu 90 % in den Entwicklungsländern auf (7). Ärmere Bevölkerungsschichten ernähren sich dort im Wesentlichen von Grundnahrungsmitteln, wie Hirse, Reis, Mais und Cassava, die zwar sättigen, aber wenig essentielle Mikronährstoffe enthalten. Die geringe Menge enthaltener Mikronährstoffe wird außerdem vom Organismus nicht gut absorbiert. (Im Unterschied zu einer Bioverfügbarkeit von 60 % bei Fleisch werden beispielsweise Eisenmikroteilchen aus Getreide vom Körper nur zu 10 % aufgenommen.) Im Ergebnis wirken die Menschen selbst bei geringem Einkommen oberflächlich gesättigt, weil die Mindestenergiemenge konsumiert ist, und bleiben dabei doch chronisch unterernährt.

Hidden Hunger tritt unabhängig von der Gesamtenergiezufuhr auf. In den reicheren Staaten übersteigt zwar die Energiezufuhr durchschnittlich den täglichen Bedarf, aber dennoch kann eine Unterversorgung an Mikronährstoffen, wie z.B. Eisen, Jod, Vitamin D, Folsäure und Vitamin B12 auftreten. Übergewicht, Armut und Fehlernährung liegen gerade in den Industrienationen nah beieinander.

Abwechslungsreiche und qualitativ hochwertige Ernährung ist nicht nur eine Frage des Wissens und Willens für eine gesundheitsförderliche Lebensführung, sondern auch abhängig vom Nettobudget der Haushalte (8). Die erzwungene Einschränkung aufgrund eines geringen Einkommens vor allem bei Alleinerziehenden gehen meist zu Lasten der Ernährungsqualität. Ärmere Familien greifen öfter zu den billigeren und den energiereicheren, fetten Lebensmittel (billiges Fleisch oder Wurst), während frisches Obst und Gemüse mit geringerer Energiedichte selten auf Dauer ausgewählt wird.

Studien belegen die Verbindung zwischen Fehlernährung, Armut und Krankheitshäufigkeit. Kinder aus sozial schwächeren Familien haben auch in Deutschland ein höheres Risiko, an krankhafter Fettsucht, an Typ2 – Diabetes und am Metabolischen Syndrom zu erkranken.

Laut Unicef wachsen in den 35 reichsten Staaten der Welt rund 30 Millionen Kinder in relativer Armut auf; 1,2 Millionen von ihnen leben hierzulande.

Strategien gegen den Hidden Hunger

Ein wichtiger Beitrag für die Prävention von Hidden Hunger besteht nach Ansicht der Experten in Maßnahmen, die es ermöglichen, das Spektrum der konsumierten Lebensmittel zu erweitern.

Akuter, schwerer und sichtbarer Mangel an Mikronährstoffen kann durch die Gabe von Mikronährstoffpräparaten und von mit Mikronährstoffen angereicherter Fertignahrung (Ready-to-user-Food, RUF) über einen kurzen Zeitraum ausgeglichen werden. Die Experten weisen beispielsweise auf Empfehlungen der WHO zur Vitamin A-Substituierung bei Kindern im Alter zwischen 6 und 59 Monaten und auf Initiativen zur Krisenintervention mit Multinährstoffen (Eisen, Folsäure) bei mangelernährten Mädchen in den USA hin.

Entscheidend hierbei ist, dass die Hilfen frühzeitig einsetzen, zumal besonders die Ernährung der Kinder bis zum zweiten Lebensjahr maßgeblich Einfluss auf die körperliche und geistige Entwicklung hat. Wissenschaftler empfehlen daher präventive Maßnahmen im prägenden 1.000 Tage – Zeitfenster, das die Phasen der Ernährung in der Schwangerschaft, in der Stillzeit und die Zeit nach dem Stillen bis zum Ende des zweiten Lebensjahres einschließt.

Doch erst die Umstellung auf eine ausgewogene Ernährung wird zu einer dauerhaften Normalisierung führen. Empfohlen wird daher die Einführung eines flächendeckenden, kostenfreien, gesunden Essens in Kindertagesstätten. Ebenso hilfreich wäre ein Diet Diversity Score, mit dem die Lebensmittel verpflichtend gezeichnet werden, inwieweit sie Mikronährstoffe enthalten. Nationale Langzeitverzehrstudien können helfen, Ernährungslücken landesspezifisch zu erfassen.

Angesichts begrenzter Land- und Wasserressourcen in der Welt sollte mehr in Verfahren zur  Intensivierung der landestypischen Lebensmittelgewinnung investiert werden. Landwirtschaftliche Forschung ist nötig, um neue Sorten züchten und neue Anreicherungsverfahren entwickeln zu können. Ziel dieser Biofortifikations-Konzepte ist es zu zeigen, wie durch züchterische Verfahren die Mikronährstoffdichte bei den landwirtschaftlich erzeugten Grundnahrungsmitteln zu steigern sind, ohne die Erträge quantitativ erhöhen zu müssen.

Die Ursachen und die Folgen einer Unterversorgung mit Mikronährstoffen sollten  nach Ansicht der Experten öffentlich wirksam beschrieben werden, damit Hidden Hunger nicht mehr verborgen bleibt.  Mit Hilfe von einschlägigen Bildungsprogrammen – für Lehrer und für Schüler – müssen Minimalkenntnisse aus dem Bereich der Ernährungsphysiologie wirksamer als bislang vermittelt werden, um fachkundige Akzeptanz in breiten Bevölkerungsschichten finden können.

Gesundheitspolitische Initiativen in Vorbereitung der Post-2015-Entwicklungsagenda helfen, den Blick für Möglichkeiten der Prävention des Hidden Hungers zu erweitern.

Zum Weiterlesen:

(1) Als Einstieg in das wissenschaftliche Konzept von Ernährung und mehr: https://www.assmann-stiftung.de/praevention/lebensstil/

(2)Hans K. Biesalski (2013). Ursachen, Folgen und Möglichkeiten zur Bekämpfung der Weltseuche Nährstoffmangel – Hidden Hunger. In: Nova Acta Leopoldina NF 118, Nr. 400, 159-192. Abrufbar über: http://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/NAL_400_Book_gesamt_lowres_US.pdf

(3) Allen Daten und Quellenbezüge sind, soweit nicht anders ausgewiesen, dem Originalbeitrag unter (2) entnommen.

(4) Eine umfassende Darstellung zu den Risiken einer Unter- und Überversorgung von mit Mikronährstoffen ist enthalten unter: https://www.assmann-stiftung.de/ernaehrung/vitamine-und-mineralstoffe/

(5) Parameter im Global Hunger Index 2013: http://www.ifpri.org/book-8018/ourwork/researcharea/global-hunger-index und http://www.ifpri.org/node/9668

(6) Zu aktuellen Daten der Kindersterblichkeit in der Global Burden of Disease Study (GBD 2013) vgl. https://www.assmann-stiftung.de/praeventive-massnahmen-zur-reduzierung-der-kindersterblichkeit

(7) S. Muthayya et al. The global hidden hunger indices and maps: an advocacy tool for action. In: PLoS One. 2013 Jun 12;8(6):e67860. doi: 10.1371/journal.pone.0067860. Abstract über: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23776712

(8) Eine intakte Gesundheit schützt vor Armut. Diese Einschätzung trifft der Bericht zu Lebenslagen in Deutschland – Vierter Armuts- und Reichtumsbericht 2013 im Abschnitt Soziale Mobilität, Ursachen für Auf- und Abstiege.  Abrufbar unter http://www.iab.de/389/section.aspx/Publikation/k130308r06

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