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Die risikoreichen Erbgutsstücke der Neandertaler [117]

So zukunftsorientiert und gesundheitsbewusst der Lebensstil auch sein mag, noch immer beeinflusst auch das Erbgut der Neandertaler unsere Anfälligkeit für Erkrankungen mit. So fanden die Wissenschaftler in DNA-Abschnitten von US-Amerikanern europäischer Herkunft Spuren unserer Vorfahren, die die Veranlagung für Herz- und Gefäßerkrankungen sowie für Schädigungen des Immunsystems, der Haut und der Nerven in der Gegenwart offensichtlich vergrößern. Sogar die Neigung zu Depressionen und zur Nikotinsucht wurde mit den Hinterlassenschaften der Neandertaler in Verbindung gebracht. Strittig blieb, weshalb Erbgut-Abschnitte über Jahrhunderte erhalten bleiben, obgleich sie schaden, indem sie das Risiko für Erkrankungen scheinbar verstärken.

Experten gehen davon aus, dass möglicherweise Eigenschaften früher einen dominanten Überlebensvorteil erbracht haben, der heute zwar noch vorhanden ist, jedoch aufgrund verändernder Lebensumstände in den Hintergrund tritt. Die für Neandertaler typische Eigenschaft einer verstärkten Blutgerinnung beispielsweise war einstmals ein Vorzug, weil sie half, dass sich Wunden schneller schließen. Unter mitteleuropäischen Lebensumständen heutzutage helfen in der Regel Wundverbände, um Infektionen abzuwehren. Eine vermehrte Blutgerinnung fördert derzeit eher die Bildung von Blutgerinnsel und erhöht die Gefahr für Embolien oder Schlaganfälle.


Wissenschaftliche Details

„Wie ein Neandertaler!“ – diese Äußerung galt noch bis vor kurzem lediglich umgangssprachlich als ein Zeichen von Missbilligung. Doch inzwischen häufen sich Forschungsergebnisse, die belegen, dass Abschnitte aus der Neandertaler-DNA tatsächlich Merkmale der jetzt lebenden Generationen beeinflussen.

Die Zeitschrift Science publiziert jetzt Ergebnisse eines umfangreichen, an der Vanderbilt University in Nashville durchgeführten Abgleichs von Erbgutdaten (1). Genabschnitte und Gesundheitsdaten von 28.416 Patienten US-Amerikanern europäischer Herkunft, die im Electronic Medical Records and Genomics (eMERGE) Netzwerk der USA erfasst sind, wurden ausgewertet, um im Detail zu zeigen, wie viele und welche DNA-Varianten heute lebender Menschen auf Neandertaler zurückgehen. Die Analyse von rund 100.000 Erbgutabschnitten belegte erstmals, dass das genetische Erbe der Vorfahren klinisch relevante Merkmale und das Risiko für Erkrankungen bis in die Gegenwart mit prägt. So fanden die Wissenschaftler Spuren im Erbgut, die die Veranlagung für kardiovaskuläre Erkrankungen sowie für Schädigungen des Immunsystems, der Haut und der Nerven in der Gegenwart offensichtlich vergrößern. Sogar die Neigung zu Depressionen und zur Nikotinsucht wurde mit den Hinterlassenschaften der Neandertaler in Verbindung gebracht.

Strittig blieb die Frage, weshalb DNA-Abschnitte über Jahrhunderte erhalten bleiben, obgleich sie schaden, indem sie das Risiko für Erkrankungen scheinbar verstärken. Einen möglichen Erklärungsansatz finden die Wissenschaftler im Funktionswechsel von Merkmalen in Abhängigkeit von der Umgebung. So könnten bestimmte Eigenschaften früher einen dominanten Überlebensvorteil erbracht haben, der heute zwar noch vorhanden ist, jedoch aufgrund verändernder Lebensumstände in den Hintergrund tritt.

Die für Neandertaler typische Eigenschaft einer verstärkten Blutgerinnung etwa war einstmals ein Vorzug, weil sie half, dass sich Wunden schneller schließen und Infektionen auf diesem Wege abgewehrt wurden. Unter heutigen, mitteleuropäischen Lebensumständen kommt beispielsweise Wundverbänden diese Aufgabe zu. Eine starke Blutgerinnung trägt jetzt eher zur Bildung von Blutgerinnsel bei und erhöht die Gefahr für Embolien oder Schlaganfälle. Archaische Erbanlagen, ehemals trainiert auf die Immunabwehr gegen die schädliche Wirkung von Pilzen und Bakterien, können in einer desinfizierten Umgebung nunmehr Allergien befördern. Genvarianten, die früher in Hungerphasen den Stoffwechsel stabilisieren halfen, verstärken in einer Zeit der Nahrungsüberfülle die Neigung zu Diabetes u.v.m.


Zum Weiterlesen

(1) N. Simonti et al. (2016): The phenotypic legacy of admixture between modern humans and Neandertals. In: Science, Vol. 351, Nr. 6274, S. 737-741. Online unter http://science.sciencemag.org/content/351/6274/737

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